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Wildkräuter sind seit jeher echte Schätze in der Selbstversorgung! Sie wurden zu allen Zeiten vom Menschen genutzt und nahmen in der Geschichte insbesondere in Notzeiten einen besonders hohen Stellenwert als wichtige Lieferanten von Vitaminen und Nährstoffen, als Heilmittel und zur Herstellung von Pflegeprodukten ein. Besonders interessant ist es, den Blick auf die Zeit ab etwa 1800 zu richten und nachzuvollziehen, wie sich der Stellenwert und die Nutzung von Wildkräutern, insbesondere hinsichtlich der Ernährung, gewandelt hat. von Virginia
Geschichte der Wildkräuter zu Zeiten der Industrialisierung
Bereits im 18. Jahrhundert veränderte sich mit Beginn der Industrialisierung die Ernährung der Bevölkerung drastisch. Die bis dahin gängige Selbstversorgung mit saisonalen, selbst produzierten Lebensmitteln oder gesammelten Wildkräutern war in Städten und bei langen Arbeitsschichten kaum mehr möglich. Im Gegenteil: Die Menschen entfernten sich rasant von Selbstanbau und Nahrungssuche in der freien Natur. Spätestens zu Beginn des 20. Jahrhunderts passte sich die Ernährung der Bevölkerung dem neuen Lebensstil, aber auch den neuen Möglichkeiten an. Der Verzehr von Kulturgemüse erhielt einen massiven Aufschwung. Neben frischem Obst und Gemüse vom Land – das nicht mehr zwangsläufig selbst angebaut werden musste, sondern in städtischen Gebieten im Handel erstanden werden konnte – hielten auch Konservendosen Einzug in deutsche Haushalte. Zucker wurde zu einem gefragten Lebensmittel, da er besonders Arbeitern die Möglichkeit bot, auf günstige Weise den allgemeinen Kalorienmangel auszugleichen.
Fleisch stand vor allem den betuchteren Stadtbewohnern zur Verfügung, während in ärmeren Arbeiterfamilien hauptsächlich die Fleischabfälle bzw. unbeliebteren Fleischstücke wie Innereien, Bauchspeck oder Füße auf dem Speiseplan standen. Da Papier mittlerweile in großen Mengen produziert werden konnte, wurden Lebensmittel zunehmend vorverpackt und in kleinen Mengen verkauft. Neben einer höheren Gewinnspanne boten Verpackungen auch viel Platz für Werbebotschaften – gleich ein doppelter Gewinn für die Wirtschaft! Die Industrie erkannte das Potenzial von Fertigprodukten und brachte die ersten Brühwürfel und Fertigsuppen („Erbswurst“) auf den Markt. Getreide wurde statt als Brot nun häufig in Form von Nudeln, Grieß und anderen Mehlspeisen zu sich genommen. Dank einer verbesserten Infrastruktur konnten Städter ohne großen Aufwand zeitnah mit frischem Obst und Gemüse vom Land versorgt werden. Im Zuge dieser veränderten Lebensmittelversorgung verloren Wildkräuter ihren Stellenwert als Nahrungsmittel – frisches Kulturgemüse war planbarer, wirtschaftlich vorteilhafter und komfortabler erhältlich.
Tees und Tinkturen aus der Wurzel der Wilden Karde sollen bei Magenbeschwerden helfen, das Immunsystem stärken, Kopfschmerzen und Hauterkrankungen lindern; daneben diente die Karde in der Wollindustrie zum Aufrauen
Die Nutzung von Wildkräutern während des Ersten Weltkrieges
Mit Beginn des Ersten Weltkrieges begann eine neue Phase des Mangels und die Menschen griffen zunehmend auf Nahrungsmittel zurück, die ihnen in der Natur kostenlos zur Verfügung standen: Wildkräuter, Beeren, Wurzeln und Pilze! Fleisch war in den Kriegsjahren natürlich Mangelware. Als Reaktion auf die Notwendigkeit der Nahrungsbeschaffung wurde der Naturkundeunterricht in Schulen angepasst und Schülern alles Wissenswerte über die Bestimmung und Nutzung von essbaren Wildpflanzen vermittelt. Da vor allem die Gewinnung von Fetten überlebenswichtig war, wurden die Schüler dazu aufgerufen Obstkerne, Bucheckern, Eicheln, Fichtensamen sowie weitere öl- und fetthaltige Früchte zu sammeln, um daraus Speiseöle herzustellen. Das war mitunter eine mühsame Angelegenheit. Beispielsweise benötigte man gut sechs Kilogramm Bucheckern, um daraus ca. einen Liter Öl zu gewinnen. Ab 1917 wurden sie und ihre Lehrer verpflichtet, Sonnenblumenkerne auszusähen, Sonnenblumen heranzuziehen und die ölhaltigen Kerne zur Herstellung von Margarine und Speiseöl als Butterersatz abzuliefern.
In diesen Zeiten des Mangels nutzten die Menschen möglichst die gesamte Pflanze und ließen keine Abfallstoffe zurück. So dienten z.B. die Blätter der Brennnessel gleichermaßen als Viehfutter und als gesundes Frischgemüse in Salaten, Suppen, als Spinat zubereitet und Tee aufgegossen; die Fasern der Stiele wurden der Bekleidungsindustrie zugeführt, um sie als Ersatz für die knappe Baumwolle zu verspinnen. Als Tee- und Kaffeeersatz dienten Getreide sowie Pflanzenfrüchte und –blätter, beispielsweise der Brombeere, Früchte des Weißdorns, Eicheln, wilde Minze, Waldmeister, Wurzeln von Löwenzahn und Wilder Möhre sowie Linden- und Holunderblüten. Kriegskochbücher gaben den Frauen einen Leitfaden an die Hand, wie Lebensmittel gestreckt und mit wenigen Zutaten, ohne Fette und häufiger Verwendung von Wildpflanzen zu Mahlzeiten zubereitet werden konnten, die das Überleben sichern.
Siehe auch: Brennnessel-Rezepte: 7 Ideen für köstliche Brennnessel-Gerichte
Das Suchen und Sammeln von Wildkräutern galt in den Kriegsjahren als „patriotische Pflicht“, darunter Beeren-, Strauch- und Baumfrüchte, Pilze, aber auch Ackersenf, Schachtelhalm oder Nachtkerze – Ein Sprichwort behauptet, dass ein Pfund Nachtkerzenwurzel so viel Kraft gebe, wie ein 1 Zentner Ochsenfleisch, sie wird deshalb auch Schinkenwurzel genannt; die Blüten schmecken in Salat, als Brotbelag, in Aufstrichen und Tee, die Samen spenden das kostbare Nachtkerzenöl
Wildkräuter während des Zweiten Weltkriegs – vor allem Heilkräuter!
Auch die Jahre des Zweiten Weltkrieges waren von Hungersnöten und Lebensmittelknappheit geprägt. Wildkräuter erlebten erneut einen enormen Aufschwung und waren grundlegender Teil der NS-Propaganda: „Was der deutsche Boden bringt, muss heute mehr denn je bis ins letzte verwendet und ausgenutzt werden“, ermahnt die Einleitung einer Wildgemüse-Broschüre. Kochbücher der Kriegsjahre erhielten wohlklingende Titel wie „Leckerbissen aus Wald und Flur“. Neben der Sicherung der Ernährung der Bevölkerung wurden Wildkräuter im Dritten Reich vor allem als Heilkräuter eingesetzt. Ab 1933, unmittelbar nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten, wurden der Anbau und das Sammeln von Heilkräutern im Deutschen Reich intensiv gefördert. Die “Blut und Boden”-Ideologie der Nazis sah in der heilenden Kraft der Pflanzen des “germanischen Bodens” die wahre und ganzheitliche Medizin für das deutsche Volk. Zudem hatten die Erfahrungen im ersten Weltkrieg gezeigt, wie schnell Deutschland durch die Errichtung von Seeblockaden von Importen abgeschnitten und regelrecht ausgehungert werden konnte.
Das Sammeln und Nutzen von Wildkräutern diente in dieser Zeit somit der Unabhängigkeit von Importen aus dem Ausland, der Schaffung von Arbeitsplätzen, dem Abbau von heimischen (Ersatz-)Rohstoffen, der Vorbereitung der Bevölkerung auf den Krieg und der Sicherung der Versorgung der Soldaten an der Front. Belegt wird dies durch den Vierjahresplan vom 18. Oktober 1936, der Deutschlands Wirtschaft innerhalb von 4 Jahren „kriegsfähig“ und die Wehrmacht „einsatzbereit“ machen sollte. Ferner sah der Plan vor, die Beschaffung von Heilkräutern ab 1938 durch die “Reichsarbeitsgemeinschaft für Heilpflanzenkunde und Heilpflanzenbeschaffung” zentral zu organisieren. Schüler wurden erneut mit der Aufgabe betraut, vorgegebene Mengen an Wildkräutern zu sammeln und fristgerecht abzuliefern. Broschüren wie „Allgemeine Richtlinien für Sammler von wilden Heilpflanzen“ und „Die Trocknung der Heilpflanzen“ dienten Lehrern und Schülern als Schulungsmaterial. Daraus resultierend lieferten Schulen alsbald den Hauptteil, nämlich knapp 90 Prozent des Gesamtvolumens an getrockneten Heilpflanzen. Um ein Gefühl für die unglaublichen Mengen zu bekommen: 1943 waren es an die 6,5 Millionen Kilogramm!
Die Wurzel der gemeinen Wegwarte diente lange als Kaffee-Alternative (Zichorie), die darin enthaltenen Bitterstoffe macht die Wegwarte zudem zu einem Heilkraut für den Verdauungstrakt; auch ihre Blätter sind frisch in Salat genießbar
Wildkräuter in der Nachkriegszeit
Noch weit über das Kriegsende hinaus wurden Wildkräuter und -pflanzen zur Sicherstellung der Ernährung genutzt. Bis Anfang der 1950er veranlasste die Kreislandwirtschaftsbehörde eine “Erhebung über Heil-, Gewürz- und Duftpflanzen“. Erst mit dem Aufschwung der Wirtschaft und dem „Wirtschaftswunder Deutschland“ gerieten Wildkräuter allmählich wieder in Vergessenheit. Zu sehr waren sie für die Bevölkerung mit Hunger, Mangel und Entbehrung verknüpft, als das man sie weiter nutzen wollte. Bis heute schüttelt es meine Großmutter bei der Erwähnung von Eichelkaffee und Brennnesselsuppe! Dank des von der neuen Regierung eingerichteten Sozialsystems waren medizinische Betreuung und die Versorgung mit Medikamenten nicht nur beinahe kostenlos sondern auch sehr bequem, sodass selbst die Nutzung von Wildkräutern als Heilmittel schnell uninteressant wurde. Während also Wildkräuter in den Nachkriegsjahren völlig aus dem Bewusstsein verschwanden, rückten sie in den letzten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts langsam wieder in den Fokus. Mit dem steigenden Umweltbewusstsein, ausgelöst durch die Klimakrise, finden Wildkräuter und ihr großer Nutzen nun endlich wieder mehr Beachtung.
Häufig zu finden: Die Wilde Möhre & Johanniskraut
Die Wilde Möhre ist verwandt mit bekannten Heil- und Gewürzkräutern wie Anis, Dill, Kümmel und Kerbel. Die Wurzeln der Pflanze schmecken als Gemüse – gebraten oder paniert in einer Wurzelpfanne oder Gemüsesuppe; die Blüten machen sich gut als Würze in Suppe, Salat und Brot sowie in Bratlingen, Öl, Pesto und Smoothies. Auch als Heilkraut ist die Wilde Möhre vielfältig nutzbar, doch Vorsicht: Sie gehört zu den Doldenblütlern und kann leicht mit giftigen Vertretern dieser Pflanzenfamilien, wie z.B. der Hundspetersilie oder dem Gefleckten Schierling verwechselt werden! Das Echte Johanniskraut ist eines meiner Lieblingskräuter, denn es ist super vielfältig einsetzbar: Sowohl in der Küche als auch in der Naturheilkunde findet es Verwendung. Besonders toll: Das echte Johanniskraut ist ein natürliches Antidepressivum, wirkt als leichter Stimmungsaufheller und kann Menstruationsbeschwerden lindern.
Die Nutzung von Wildkräutern & Wildpflanzen heute
Wir Menschen sind in den meisten Teilen der Welt, dank Agrarindustrie und Globalisierung, an reich gefüllte Regale in Supermärkten, Drogerien und Apotheken gewöhnt und eine Ernährung, die sich an saisonal bzw. regional verfügbaren Lebensmitteln orientiert, ist zwar möglich aber nicht zwingend erforderlich. Dank Importen aus allen Ecken der Welt ist das Warenangebot in der Obst- und Gemüseabteilung über das ganze Jahr hinweg reichhaltig. Lebensmittel voller Vitamine, Mineralien und Nährstoffe sowie Medikamente stehen im Überfluss und jederzeit nahezu unbegrenzt zur Verfügung. Die Globalisierung bietet unglaublich viele Vorteile, jedoch stehen ihr auch ebenso viele Nachteile gegenüber. Viele Menschen haben das Gespür dafür verloren, welche Obst- und Gemüsesorten saisonal und regional verfügbar sind. Frische Lebensmittel legen oftmals lange Transportwege zu uns Verbraucherinnen zurück und verlieren durch die frühe Ernte, Lagerung bis zum Verkauf und Verzehr bereits einen Großteil ihrer gesunden Inhaltsstoffe.
Zieht man zudem Aspekte wie die Verwendung von Pestiziden und Düngemitteln beim Anbau, den z.T. enormen Wasserverbrauch zur Produktion von z.B. Avocados, die Verwendung von genetisch verändertem Saatgut und die Unmengen an Verpackungen hinzu, kommt man zwangsläufig zum Ergebnis, dass eine saisonale und regionale Ernährung nicht nur uns sondern auch auch dem Klima gut tut. Neben regionalem Zuchtgemüse ergibt auch eine verstärkte Nutzung der heimischen Wildkräuter und -pflanzen durchaus Sinn: Diese bieten insbesondere Vegetarierinnen und Veganerinnen eine ideale Möglichkeit, alle benötigten Nährstoffe aufzunehmen. Zudem könnt Ihr die Wirkstoffe zahlreicher Wildkräuter in der Hausapotheke oder in selbstgemachter Naturkosmetik nutzen.
Siehe auch: Hausapotheke: Diese 3 Hausmittel helfen in der Erkältungszeit!
Der botanische Name der Schafgarbe lautet “Achillea” und leitet sich von dem griechischen Helden “Achilles” ab, der angeblich mit ihr seine Wunden behandelte – tatsächlich ist sie eine äußerst vielseitige und heilkräftige Wildpflanze, die sowohl in der Küche als auch in der Naturheilkunde Verwendung findet, und meine persönliche Lieblingsheilpflanze
Das war unsere kleine Geschichte der Wildkräuter! Wenn Ihr möchtet, gibt’s hier in Zukunft noch weitere spannende Infos und Rezepte rund um das wilde Kraut…
- Die 10 besten Bücher über Wildkräuter
- Heilpflanzen-Portrait: Der echte Lavendel & seine Anwendung
- Heilpflanzen-Portrait: Die Ringelblume & ihre Anwendung
- Heilpflanzen-Portrait: Die Schlehe & ihre Anwendung
- Rainbow-Kräutersalz: So konserviert Ihr den Sommer!
Liebe Virginia,
ein tolles Thema und super spannend zu lesen! Danke!
Kleine Randnotiz: Gerade heute habe ich in einem Podcast gehört, wie viel nährstoffreicher die vermeintlichen tierischen Abfallprodukte wie Innereien – Stichwort “Nose to Tail” – im Gegensatz zum Muskelfleisch sind, also hat man der ärmeren Bevölkerung damals sogar etwas Gutes getan.
Herzliche Grüße
Dani
PS: Obstkerne sollte man aber eigentlich nicht essen oder? Wegen der Blausäure?
Liebe Dani,
ich freue mich, dass dir der Artikel gefällt – ich finde das Thema auch super spannend und könnte noch stundenlang darüber schreiben!
Die Info aus dem Podcast ist ja mal sehr interessant; wenn es man darüber nachdenkt aber gar nicht mal unlogisch!
Bezüglich deiner Obstkern-Frage:
Blausäure ist vor allem in den Kernen von Apfel, Kirsche, Pflaume und Aprikose enthalten – diese sollten daher nicht verzehrt werden.
Andere Kerne, beispielsweise von der Traube, Wassermelone und von Zitrusfrüchten sind essbar und enthalten sogar gesunde Inhaltsstoffe wie sekundäre Pflanzenstoffe (Traube), ungesättigte Fettsäuren, Magnesium, Eisen, Zink (Wassermelone) und Vitamin C (Zitrusfrüchte), die einen Verzehr nicht nur unbedenklich sondern sogar empfehlenswert machen.
Wie das Blausäure-Problem bei der Ölgewinnung in Kriegszeiten gehandhabt wurde, dazu habe ich auf die Schnelle keine umfassende Information gefunden.
Ich könnte mir vorstellen, dass der Nutzen des Öls größer erschient als die gesundheitlichen Bedenken hinsichtlich der Blausäure: Da Blausäure lediglich in hohen Dosierungen Vergiftungserscheinungen hervorruft und Öl in Kriegszeiten ja ohnehin sehr sparsam verwendet wurde, wurde darauf eventuell kein großes Augenmerk gelegt. In einem Kreisblatt des Stadtarchives Troisdorf von 1915 habe ich einen Artikel zur Ölgewinnung aus Obstkernen gefunden, in dem steht, dass die Blausäure “einfach zu entfernen” sei. Wie genau steht dort leider nicht erklärt.
Herzliche Grüße,
Virginia
Liebe Virginia,
was für traumhaft schöne Aufnahmen das sind!!!
Lieben Gruß
Sybille