Sybilles Bücherschau: Spannende Zeitgeschichte für Winterabende
Sybille

Für die kurzen Wintertage, an denen es noch schnell dunkel wird, und die Abende mitunter lang werden können, habe ich Euch in meiner aktuellen Bücherschau wieder einige richtig spannende Bücher zusammengestellt. Diese haben – bei aller Ernsthaftigkeit – das Potenzial zu echten Pageturnern. Mit dabei sind einige ältere Veröffentlichungen, wie „1913” von Florian Illies oder „Isidor” von Shelly Kupferberg, aber auch Neuerscheinungen wie „Liebe in Zeiten des Hasses“, „Der doppelte Erich“, „Paukenschläge aus dem Paradies“ und „Die letzten Strahlen eines Sterns“. von Sybille

1. Florian Illies: Liebe in Zeiten des Hasses

Schon nach 10 Seiten wollte ich Florian Illies Buch Liebe in Zeiten des Hasses zu meinem neuen Lieblingsbuch erklären. Aber da das Jahr gerade erst begonnen hat, halte ich es mit Ferdinand von Schirach, der es wie folgt empfiehlt: „Lesen Sie bitte dieses Buch, es ist hinreißend. Ich habe so viel Neues erfahren, über die Liebe, die Kunst und das Grauen.” Zum Inhalt: Florian Illies führt ins entscheidende Jahr 1933, in die Epoche einer singulären politischen Katastrophe, um von Liebespaaren der Kulturgeschichte zu erzählen. Wir treffen Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir, die im Berliner Kranzler-Eck Käsekuchen essen, Ernest Hemingway, der sich in Affären stürzt, Erich Kästner, der wirklich nicht nett zu Frauen ist, und Bertold Brecht, der sich mitsamt seinen Anhängerinnen ins Exil begibt. Dieses Buch ist ein echter Pageturner und auf jeder neuen Seite wartet man fast atemlos darauf, wer denn jetzt schon wieder mit wem eine Affäre anfängt, Rauschmittel nimmt oder einen Skandal anzettelt. Und nein – es hat überhaupt nichts Reißerisches, sondern ist eine kluge Gesellschaftsgeschichte, die meine einstigen literarischen Helden in einem neuen Licht dastehen lässt.

2. Florian Illies: 1913, Die Gesamtausgabe

Vor lauter Begeisterung für „Liebe in Zeiten des Hasses” habe ich mir dann direkt noch die Gesamtausgabe des Vorgängers „1913” zugelegt – inzwischen schon ein internationaler Bestseller. Im Jahr 1913, in dem „unsere Gegenwart begann“, treffen wir u.a. auf Gottfried Benn, Franz Kafka, James Joyce und Else Lasker-Schüler. Und ein österreichischer Postkartenmaler namens Adolf Hitler taucht ebenfalls auf. Auch hier entfaltet der deutsche Autor, Kunsthändler, Journalist, Historiker und Kurator Florian Illies ein historisches Panorama, das ich in einem Rutsch verschlungen habe.

Florian Illies: Seine besten Bücher

„Liebe in Zeiten des Hasses“ ist im Fischer Verlag erschienen, auch 1913” wurde bei Fischer herausgegeben

3. Tobias Lehmkuhl: Der doppelte Erich

Anfang der 1930er Jahre befand sich Erich Kästner auf dem Höhepunkt seines Erfolges. Als die Nazis die Macht übernehmen, entscheidet er sich, in Deutschland zu bleiben. Er erhält Publikationsverbot, schreibt aber unter Pseudonym weiter, unter anderem für die UFA, die von Goebbels politisch instrumentalisiert war. So kommt er einigermaßen über die Runden. Kästner hat diese Verstrickung später nicht mehr thematisiert. Autor Tobias Lehmkuhl hinterfragt das zwiespältige Kapitel im Leben von Kästner in Der doppelte Erich. Dabei gelingt es ihm, ein Bild der Literatur- und Filmszene und die Situation der Künstlerinnen im Dritten Reich zu vermitteln. Manchmal schießt er mit Spekulationen darüber, wie Gespräche abgelaufen sein könnten, etwas über das Ziel hinaus, aber es gelingt ihm ein interessantes Porträt des Schriftstellers, das auch dessen innere Abgründe zeigt. Schein und Sein spielen dabei eine große Rolle – ähnlich wie in dessen Werk, in dem Doppelgänger und falsche Identitäten immer wieder auftauchen.

Tobias Lehmkuhl: Der doppelte Erich

„Der doppelte Erich” von Tobias Lehmkuhl ist im Verlag Rowohlt erschienen

4. Evelyn Smyth: Paukenschläge aus dem Paradies

Was für eine Frau! Die englische Komponistin Ethel Smyth (1858-1944) hat schon früh ihren eigenen Kopf durchgesetzt und zum Beispiel ihren Vater mit einem Hungerstreik dazu gezwungen, ihr das Musikstudium zu gestatten. Mit wilder Entschlossenheit überwand sie alle gesellschaftlichen Hürden auf dem Weg zur professionellen Komponistin. Sie verkehrte mit Clara Schumann, Edvard Grieg, Johannes Brahms und Peter Tschaikowski. An der Metropolitan Opera wurde 1903 ihre Oper „Der Wald“ uraufgeführt – die erste Oper einer Komponistin überhaupt, und die einzige bis 2016! Dabei hatte sie nicht nur ihre Karriere als Musikerin im Blick, sondern auch die Rechte der Frauen. Sie war eng befreundet mit Emmeline Pankhurst und Virginia Woolf und komponierte die Suffragetten-Hymne The March of the Women! Bedingt durch zunehmende Hörprobleme und die Pleite der argentinischen Bank, die ihr Vermögen verwaltet hatte, begann sie außerdem zu schreiben – überaus erfolgreich. Heidi Feilhauer hat diese Schriften als „Paukenschläge aus dem Paradies – Erinnerungen” (erschienen bei Ebersbach und Simon) wunderbar zusammengefasst.

5. Amanda Lee Koe: Die letzten Strahlen eines Sterns

Auf dem Taschenbuch-Cover des Romans „Die letzten Strahlen eines Sterns” sieht man ein Foto von Alfred Eisenstädt. Es zeigt drei Schauspielerinnen 1928 in Berlin: die damals noch unbekannte Marlene Dietrich, die chinesisch-stämmige US-Amerikanerin Anna May Wong und Leni Riefenstahl. Die Lebenswege dieser Frauen verfolgt Autorin Amanda Lee Koe in ihrem klugen Debüt. Vom Berlin der Weimarer Zeit bis zur deutschen Wiedervereinigung, von einem Dorf in den bayerischen Alpen bis nach Los Angeles und Paris und durch die wechselnden politischen Strömungen des 20. Jahrhunderts. Die dreimal drei Kapitel erzählen vom Leben jeweils einer Frau zu einem bestimmten Zeitpunkt. Sie werden mit verschiedenen historischen, aber auch fiktiven Figuren konfrontiert. So begegnet Anna May Wong zum Beispiel Walter Benjamin. An Wongs Beispiel zeigt sich sehr deutlich, wie schlimm Diskriminierung und Ausbeutung in der Filmbranche waren (und manchmal noch sind). Sie bekam in Hollywood nur Nebenrollen – entweder weil sie zu chinesisch aussah oder nicht chinesisch genug. Ein wunderbar geschriebenes, gründlich recherchiertes Buch, dass die Fiktion fast wie Fakten erscheinen lässt. „Die letzten Strahlen eines Sterns” ist bei Kein & Aber erschienen.

Amanda Lee Koe: Die letzten Strahlen eines Sterns

6. Shelly Kupferberg: Isidor

Shelly Kupferberg erzählt die Geschichte ihres Urgroßonkels Dr. Isidor Geller, der 1938 Opfer der Nationalsozialisten geworden ist. Der aus einem galizischen Schtetl (Siedlungen mit hohem jüdischem Bevölkerungsanteil) stammende Jurist erfüllt sich in Wien seinen Traum von einem besseren Leben. Er ist überzeugt, dass ihm niemand etwas anhaben kann, nicht einmal die Nazis. Dem ist natürlich nicht so und von seinem großbürgerlichen Leben als Kommerzialrat, Multimillionär, Opernfreund und Kunstsammler in einer Zehn-Zimmer-Wohnung bleibt nur noch ein Besteckkasten, den die Familie Kupferberg heute noch an Pessach in Gebrauch hat. Shelley Kupferberg hat motiviert und inspiriert von ihrer eigenen Geschichte und ihren Erlebnissen als deutsch-israelische Jüdin aufwendige Archivrecherche betrieben und ein beeindruckendes Porträt ihres Großonkels geschaffen. „Isidor” ist im Verlag Diogenes erschienen.

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3 Kommentare
  • sk sagt:

    Meine Liste der Bücher, die ich unbedingt lesen will, ist gerade wieder etwas länger geworden. Danke für diese schönen Empfehlungen. Auf das Buch von Amanda Lee Koe wäre ich sonst nicht gestoßen.

    Viele Grüße
    sk

  • Sybille sagt:

    Es freut mich sehr, dass Dir die Liste so gut gefällt. Ich darf auch gar nicht in meine Lieblings-Buchhandlung gehen, denn ich komme immer mit mindestens zwei Büchern wieder raus. Viel Spaß bei der Lektüre.

    Herzlichst
    Sybille

  • Lenina sagt:

    Danke für diese tollen Buchempfehlungen, „Die letzten Strahlen eines Sterns“ werden gleich im Warenkorb landen

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